Die Neuentdeckung dürfte nicht nur für die beteiligten Wissenschaftler*innen eine Überraschung sein. Im Rahmen eines internationalen Forschungsprojektes wollten die Pilzexpert*innen der University of Alberta (Kanada) einige wenig beachtete „Sonderlinge“ unter den Schlauchpilzen (Ascomycota) genauer unter die Lupe nehmen, um ihre Klassifizierung und damit ihren Platz im Reich der Pilze besser zu verstehen. Die Verwunderung war groß, als das Forschungsteam eine unerwartete Verwandtschaft feststellte. „Zweiundzwanzig der dreißig untersuchten Linien gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück. Sie repräsentieren zusammen über 600 Arten,“ erklärt Robert Lücking, Kustos für Kryptogamen am Botanischen Garten Berlin und Mitautor der nun in Current Biology veröffentlichten Studie. „Für die Pilzwelt ist das ein echter Paukenschlag, eine derartige Neuordnung ist bisher beispiellos.“
Wie David Diáz-Escandón, Erstautor der Studie, und seine Mitforscher*innen zeigen konnten, spaltete sich der gemeinsame Vorfahre der Gruppe bereits vor über 300 Millionen Jahren von den Vorfahren anderer Schlauchpilzgruppen ab. Dieses Ergebnis stellt auch das Bild vom evolutionären Ursprung der Flechten in Frage. Denn: die neue Gruppe enthält auch einige Flechten und liefert somit einen Hinweis darauf, dass deren Ursprung früher liegt als bisher angenommen. Die neu entdeckte Großgruppe der Pilze erhält die Bezeichnung Lichinomycetes und trägt damit den Originalnamen einer bisherigen Klasse, welche in dieser neuen Gruppe aufgegangen ist und den Großteil der Arten stellt.
Möglich wurde die Neuentdeckung durch die Sequenzierung von Mischgenomen mittels High Throughput Sequencing – einer modernen Methode der DNA-basierten Forschung. Besonders auffällig bei der neuen Pilzgruppe: Ihren relativ kleinen Genomen fehlen Gene, die es anderen Pilzen ermöglichen, organische Materie abzubauen. Sie sind daher an jeweils ganz bestimmte Lebensräume angepasst und stark von symbiotischen Beziehungen abhängig. Wenn sich die Umweltbedingungen ändern – etwa durch den Klimawandel – dürften diese Arten im Vergleich zu verwandten Großgruppen schlechtere Überlebenschancen haben. Die Ergebnisse der Forschung können nun als Grundlage genutzt werden, um die „Sonderlinge“ unter den Pilzen besser zu erforschen und damit auch ihre Lebensräume weltweit in Zukunft besser zu schützen.
Die nun veröffentlichte Studie ist das Ergebnis einer langjährigen internationalen Zusammenarbeit. Unter der Leitung von Toby Spribille vom Department of Biological Science der University of Alberta (Kanada) forschte das 13-köpfige Team mehrere Jahre an der gemeinsamen Entdeckung. Neben dem Botanischen Garten Berlin waren wissenschaftliche Einrichtungen aus Brasilien, China, Großbritannien, Österreich, Tschechien und den USA an dem Projekt beteiligt.
Pressefoto: https://www.bgbm.org/de/presse/pressefotos#GrossgruppePilze
Publikation:
David Diáz-Escandón & al. (13 Autor*innen aus acht Ländern): Genom-level analyses resolve an ancient lineage of symbiotic ascomycetes (2022). In: Current Biology. https://doi.org/10.1016/j.cub.2022.11.014
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Dr. Robert Lücking, Kustos, Kryptogamen
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